Empathie in der Pflege:
Esther macht einen aufgeschlossenen, aber etwas zurückhaltenden Eindruck. Sie hat sich in letzter Zeit sehr mit dem Thema „Empathie“ beschäftigt. Vor allem bei ihren Kollegen vermisst sie eine empathische Haltung. Seit sie durch die Langzeitfolgen ihrer Corona-Erkrankung eine Auszeit einlegen muss, hat sie von ihren Kollegen nichts mehr gehört. Dabei ist sie anderen immer freundlich und sozial entgegengetreten, was in ihrem Beruf in der Pflege auch nötig ist.
zu viel Empathie
Manchmal hat sie das Gefühl sogar zu empathisch zu sein, zu viel mit anderen mitzufühlen. Sie verzweifelt oft, ist wütend und enttäuscht. Sie fragt mich, ob sie ihre Kollegen auf ihr Verhalten ansprechen soll. Zu Hause fehlt es ihr ebenfalls an Empathie und Zuspruch.
In ihrer Freizeit betätigt sie sich gerne kreativ, malt und näht. Ihr Freund findet gut, was sie macht, interessiert sich aber nicht sonderlich dafür und gibt ihr wenig Zuspruch.
zu wenig Empathie
Er arbeitet als IT-ler in der Computerbranche und Esther fragt sich, ob er deshalb oberflächlich und wenig empathisch reagiert. Sie dagegen wünscht sich Gespräche mit mehr Tiefgang und möchte ihrem Freud erzählen, was emotional in ihr vorgeht.
ÜBERSICHT BLOG
1. Hilfestellung durch den Life Coach
2. Test: Bin ich empathisch?
3. Was sagt die Psychologie zum Thema „Empathie“?
4. Aufschlüsselung der Testfragen
5. Fazit: Empathie-Test
1. Hilfestellung Life Coach
In der ersten Session versuche ich, mir zusammen mit Esther eine Art Rundumblick zu verschaffen. Wir schauen uns ihre unterschiedlichen Lebensbereiche an und blicken in ihre Vergangenheit. Ich schlage 3 Hauptthemen vor, denen wir uns widmen sollten: die Situation an der Arbeit, die Kommunikation mit ihrem Freund und ihre eigenen Lebensziele.
Anliegen beruflich
Esther erzählt mir daraufhin, dass sie vor einigen Jahren kurz vor einem Burnout stand. Sie hatte Schwierigkeiten, sich zu motivieren, arbeitete trotzdem weiter, fünfzig bis sechzig Stunden in der Woche, in geradezu perfektionistischer Manier. Von ihrem damaligen Chef bekam sie ab und an ein beliebiges Lob, aber nie echte Anerkennung. Eine längere Psychotherapie verhinderte damals Schlimmeres.
wertfreie Kommunikation
Heute geht es ihr, bis auf einige gesundheitliche Beschwerden, im Grunde besser. Sie hat einen gesunden Selbstwert, einen sympathischen Freund und bis vor Kurzem angenehme Kollegen. An der Arbeit hatte sie eigentlich kaum noch Probleme, bis sie aus gesundheitlichen Gründen kürzertreten musste.
Was ihre Haltung ihren Kollegen gegenüber angeht, schlage ich vor, dass sie ein wertfreies Gespräch mit ihnen führt. Das heißt, ein Gespräch ohne Urteile oder Vorwürfe. Diese wertfreie Kommunikation ist ein wichtiger Schlüssel auf dem Weg zu Empathie.
Fazit des beruflichen Anliegens
Kurze Zeit später führt Esther, wie abgemacht, ein gutes Gespräch mit ihren Kollegen. Es wird ihr klar, wie sehr alle unter Druck stehen. Auch wussten die meisten nicht einmal genau, weswegen Esther zu Hause bleiben musste. Sie haben sich über den Austausch gefreut und hoffen, dass Esther bald wieder Teil des Teams sein wird. Dadurch ist ihre Wut verflogen und sie fühlt sich erleichtert.
Anliegen privat
Was ihre Beziehung zu ihrem Freund angeht, schlage ich vor, dass Esther sich mehr auf seine Stärken, auf seine positiven Seiten konzentriert. Auch arbeite ich mit Estehr an ihren eigenen Stärken. Insbesondere vertiefen wir das empathische Zuhören. Auch üben wir mit Hilfe von Rollenspielen ein, wie sie ihre Gestik und Mimik zielführender einsetzen kann.
Durch ihre positiveren Mindsets wird Esther allmählich klar, dass sie selbst in letzter Zeit sehr fordernd gewesen sind. Sie hat zu sehr um das Thema „Empathie“ gekreist. Ihr Freund ist sehr wohl empathisch, kann sich nur nicht so gut ausdrücken. Esther will sich mit dem Thema „Kommunikation“ in Zukunft noch einmal intensiver beschäftigen.
Fazit privat
Als Letztes sprechen wir über ihre Werte und Ziele. Es stellt sich heraus, dass sie mit ihrer Arbeit doch recht glücklich ist. Eine Arbeit mit Menschen war immer schon ihre Berufung. Sie muss nur lernen, etwas geduldiger zu sein. Sobald sie sich wieder ganz gesund fühlt, will sie ihre Arbeit wieder aufnehmen.
2. Test: Bin ich empathisch?
a) Wenn ich einen Obdachlosen auf der Straße sehe, laufe ich nicht einfach vorbei, sondern mache mir Gedanken um das Schicksal der Person.
b) Bei Filmen kann ich mich leicht in die Charaktere hineinversetzen.
c) An der Arbeit spüre ich ziemlich schnell, wenn ein Kollege mit seinen Nerven am Ende ist.
d) Ich spüre es, wenn unter anderem ein Nachbar gerne reden möchte und lasse mich auf einen Small Talk ein.
e) Die Sorgen von anderen machen mir zu schaffen, ich nehme diese Sorgen manchmal sogar von der Arbeit mit nach Hause.
f) Wenn ich sehe, wie eine Kollegin oder ein Kollege schlecht behandelt wird, erinnert mich das an Situationen, in denen ich selbst in einer hilflosen Lage war.
3. Was sagt die Psychologie zum Thema „Empathie“?
In der Psychologie gibt es keine eindeutige Definition von Empathie. Einig sind sich Psychologinnen und Psychologen nur darin, dass Empathie mindestens aus zwei Teilen besteht: aus der affektiven und der kognitiven Empathie.
Asperger Syndrom
Dass Empathie nicht einfach zu deuten ist, zeigt sich am Beispiel von Menschen, die autistische Tendenzen haben. Sie können sich durchaus hineinfühlen in andere, haben aber oft Probleme, sich vorzustellen, was in anderen vorgeht.
Das emotionale Nachempfinden fällt ihnen also leicht, die Perspektivenübernahme dagegen ist für sie schwierig.
Kognitive Empathie
beschreibt das Erkennen von Gefühlen bei anderen. Es geht um die Perspektivenübernahme und das Hineinversetzen in andere (Einbildungskraft): „Ich verstehe, was in dir vorgeht.“ Oder: „Ich sehe, was du fühlst.“
Affektive Empathie
lässt uns Gefühle verstehen, beschreibt die Fähigkeit, mitzufühlen und Emotionen zu teilen (sehr Körperlich): „Ich fühle, was du fühlst.“
Empathie manipulativ einsetzten
Nur mitzufühlen und sich gedanklich in einen anderen hineinzuversetzen, ist aber keine hinreichende Bedingung für ein wertschätzendes, emphatisches Verhalten. Wer weiß, was andere denken, fühlen oder fürchten, kann das leider auch manipulativ nutzen. In der Marketingwelt wird (kognitive) Empathie oft missbraucht, um den Kunden etwas zu verkaufen, was diese meistens nicht brauchen.
Beim sogenannten Social Engeneering wird manipulativ versucht, an wichtige Informationen oder Daten zu gelangen. So werden einzele Mitarbeiter und manchmal sogar ganze Firmen geschädigt.
Empathie wertschätzend einsetzen
Um zu gewährleisten, dass Empathie aufrichtig und authentisch ist, müssen gewisse Werte betrachtet werden, die Orientierung bieten. Der amerikanische Psychologe Carl Rogers spricht in dem Zusammenhang von Werten wie Respekt, Akzeptanz und Offenheit. Gemeint ist hier auch die Rolle des Psychotherapeuten oder des Life Coaches gegenüber Patienten und Kunden.
Empathie und Körpersprache
Entscheidend dafür, ob Kommunikation von Empathie getragen wird, ist nach Carl Rogers die Fähigkeit, Mimik und Gestik zu erkennen. Beides verschafft einem einen direkten Zugang zur Gefühlslage des Gesprächspartners.
Wenn z.B. der Sprecher ein kurzes Zögern bei seinem Gegenüber erkennt, kann er mit einer kurzen Handbewegung (Aufforderungsgeste) subtil reagieren. So kann er mit einer simplen (emphatischen) Geste dem Bedürfnis des Gesprächspartners entgegenkommen.
4. Aufschlüsselung der Testfragen
a) Wenn ich einen Obdachlosen auf der Straße sehe, laufe ich nicht einfach vorbei, sondern mache mir Gedanken um das Schicksal der Person. (= Mitleid)
b) Bei Filmen kann ich mich leicht in die Charaktere hineinversetzen. (= kognitiv)
c) An der Arbeit spüre ich ziemlich schnell, wenn ein Kollege mit seinen Nerven am Ende ist. (= affektiv)
d) Ich spüre es, wenn zum Beispiel ein Nachbar gerne reden möchte und lasse mich auf einen Small Talk ein. (= kognitiv)
e) Die Sorgen von anderen machen mir zu schaffen, ich nehme diese Sorgen manchmal sogar von der Arbeit mit nach Hause. (= affektiv)
f) Wenn ich sehe, wie eine Kollegin oder ein Kollege schlecht behandelt wird, erinnert mich das an Situationen, in denen ich selbst in einer hilflosen Lage war. (= Mitleid)
5. Fazit: Empathie-Test
Mitleid und Empathie sind nicht immer leicht auseinanderzuhalten. Bei beiden stellen wir eine emotionale Bindung zu anderen (oft hilflosen) Personen her. Wir sind aber froh, selbst nicht in einer ähnlichen (aussichtslosen) Lage zu sein.
Oft fühlen wir uns unangenehm berührt. Der Blick ist wahlweise etwas von oben herab und kühl. Bei Empathie ist der Blick eher warm und zugewandt.
© Timo ten Barge [23.02.2022]
Hallo Timo,
sehr schöne Webseite und ein interessanter Blog!
Ich finde deinen Beitrag zur Empathie sehr spannend. Den meisten von uns ist der Unterschied zwischen Mitleid, Mitgefühl und Empathie doch gar nicht bewusst. Für mich persönlich ist Mitleid eines der schlechtesten Gefühle, das man einem anderen Menschen mitgeben kann. Empathie dagegen eines der stärksten, das man empfinden und geben kann.
Ich behaupte von mir selbst ein empathischer Mensch zu sein. Dennoch beobachte ich, dass ich sehr viel mehr Empathie aufbringe für Menschen, die mir ähneln in Charakter, Lebensweise und Weltanschauung. Für Menschen, die das Gegenteil von mir sind, bringe ich eher Mitleid/Mitgefühl auf. Wie kann es im Coaching gelingen von Mitleid/Mitgefühl weg hin zur Empathie zu kommen?
Grüße, Michaela
Hallo Michaela,
danke für das Kompliment!
Ich kann es gut verstehen, dass du mehr Empathie aufbringen kannst für Menschen, die deine Weltanschauung teilen. So geht es vielen.
Es wäre wichtig zu erörtern, welche Gründe es gibt, weniger Mitleid oder Mitgefühl zeigen zu wollen, dafür empathischer durchs Leben zu gehen. Wenn diese Motive geklärt sind, ist es auch möglich, daran zu arbeiten.
Ich hoffe, ich konnte deine Frage in etwa beantworten.
Viele Grüße
Timo
Danke, Timo,
für deine Antwort und den Gedankenanstoß!
Viele Grüße, Michaela
Hallo Michaela,
gerne geschehen:)
Viel Erfolg!
Liebe Grüße, Timo
Hallo Timo,
dein Blog hat mir sehr gefallen.Teilweise erkenne ich mich in Esther wieder, kann mich also gut in sie hineinversetzen. Deine Lösungsansätze finde ich toll! Du schreibst auch über die negativen Seiten der Empathie, das Manipulieren. Ist Empathie als grundsätzlich gut oder eher negativ zu betrachten?
Liebe Grüße, Nele
Hallo Nele,
Danke für die positive Rückmeldung! Eine gute Frage – es hängt davon ab, wen du fragen würdest. Der Psychologe Paul Bloom meint, dass Empathie ein schlechter Ratgeber ist. Wir sollten uns bei wichtigen moralischen Entscheidungen nicht davon leiten lassen. Er behauptet, dass Empathie irrational und voreingenommen ist. Wir fühlen, was andere fühlen, aber das betrifft nur Menschen, mit denen wir eine Verbundenheit spüren.
Wir können Empathie demzufolge nicht als moralischen Kompass nutzen. Bloom veranschaulicht diese (rationalistische) These mit einem Beispiel aus den Neurowissenschaften: Eine Testperson hält ihre Hand in einen Behälter mit Eiswasser. Inzwischen zeigt ein Gehirnscan welche Gehirnprozesse ablaufen. Eine zweite Person beobachtet die erste Person dabei. Bei der zweiten Person wird ebenfalls ein Gehirnscan gemacht. Ist nun die Person mit der Hand im Eiswasser z.B. Fan derselben Fußballmannschaft, empfindet die beobachtende Person Empathie. Sie fühlt quasi die Schmerzen mit. Ist die Testperson jedoch Anhänger der gegnerischen Mannschaft, zeigt der Gehirnscan der zuschauenden Person etwas anderes. Die Person empfindet so etwas wie Schadenfreude.
Bloom schlussfolgert daraus, dass wir besonders für Menschen, mit denen wir uns verbunden fühlen, Empathie empfinden. Empathie funktioniert bei Menschen in der Nähe, in unserem Umfeld. Sie funktioniert am besten bei Familie und Freunden. Empathie ist deswegen voreingenommen und irrational.
ich hoffe ich konnte deine Frage damit beantworten
Viele Grüße
Timo
Danke Timo, für deine ausführliche Antwort. Empathie ist also doch nicht so positiv, wie oft dargestellt. Ist sie eventuell sogar verwerflich? Bin gespannt.
LG, Nele
Hallo Nele,
das würde ich so nicht behaupten, da sind sich auch unterschiedliche Wissenschaftler nicht so einig. Bloom glaubt also, dass wir uns durch Empathie in die Irre führen lassen. Der Primatologe Frans de Waal meint schlichtweg, dass moralische Unparteilichkeit einfach nicht auf der biologischen Speisekarte steht. Er kontert Bloom mit Fakten aus seiner Feldforschung mit Primaten. Außerdem, so meint de Waal, lässt es sich nun mal nicht leugnen, dass es bestimmte Loyalitäten gibt. So ist einem die eigene Familie um einiges wichtiger als Fremde. Seine Nächsten im Stich zu lassen ist demzufolge ethisch verwerflicher, als Fremde in der Kälte stehen zu lassen. Zum Thema Empathie wird es noch viele Studien geben, auf jeden Fall ein sehr spannendes Thema.
Viele Grüße
Timo
Hallo Timo,
wie siehst du Blooms Theorien im Hinblick auf deine Life Coaching Erfahrungen?
Lg, Nele
Hallo Nele,
Ich finde seine Ansätze, Alternativen für Empathie zu suchen ganz gut. Es geht dann um Mitgefühl (compassion) als moralischen Kompass, statt Empathie. Bloom schlägt vor, dass wir, wenn es um moralische Entscheidungen geht, mehr auf unser rationales Mitgefühl (compassion) vertrauen sollten.
Der Niederländischer Historiker, Rutger Bregman, der sich Blooms Theorie anschließt, formuliert es so: „Mitgefühl ist kontrollierter, distanzierter und konstruktiver. Es lässt dich nicht am Leiden der anderen teilhaben, aber es hilft dir, ihr Leiden zu sehen. Und was noch wichtiger ist, es hilft dir, Maßnahmen zu ergreifen. Mitgefühl gibt Energie.“
Liebe Grüße, Timo
Hallo Timo,
das ist interessant. Es würde mich interessieren, ob du persönlich etwas an den Theorien von Bloom und Bregman kritisierst, oder schließt du dich eher ihren Theorien an?
Bin gespannt!
Grüße Nele
Hallo Nele,
auch wenn Bloom und Bregman zurecht auf die Gefahren von Empathie hinweisen, vergessen sie das Empathie mehr ist als selektives hineinfühlen. Die kognitive Aspekte des Begriffes werden zu wenig berücksichtigt. Die Tatsache, dass es möglich ist sich mehr (wertschätzende) Empathie an zu eignen, wird außer Betracht gelassen.
Das Empathie ein Wert ist, der sich im Laufe des Lebens entwickeln kann, hat das Leben von Oskar Schindler gezeigt.
So schreibt Roman Krznaric in seinem Buch ‚Empathy‘:
„Schindlers Geschichte zeigt uns, dass Empathie damit beginnt, anderen in die Augen zu sehen, sie zu benennen und ihre Individualität zu erkennen. Es bedeutet, ihre Menschlichkeit angesichts von Vorurteilen und Stereotypen anzuerkennen und sich zu weigern, Autoritäten zu gehorchen, die uns befehlen, andere herabzusetzen.“
Krznaric Auffassung von Empathie ist vollständiger und bezieht sich auf die Person als ganzes. Bei Bloom und Brechman ist Empathie an sich fehlerbehaftet, es ist, überspitzt gesagt, etwas Böses. Bei Krznaric ist Empathie etwas, womit man gegen das Böse antreten kann.
Viele Grüße
Timo
Hallo Timo,
herzlichen Dank, das ist für mich sehr interessant und hilfreich.
Ich wusste nicht, dass es so viele unterschiedliche Sichweisen gibt, was das Thema Empathie angeht.
Liebe Grüße, Nele
Hallo Nele,
gerne gemacht! Genau, es ist ein vielseitiges Thema, aber im Life Coaching sehr wichtig und leider etwas unterschätzt.
Viele Grüße, Timo