In der ersten Session erzählt mir Selina, dass sie als Osteopathin arbeitet. Während der Arbeit hört sie sich von den Patienten oft deren Lebensgeschichten an, die meistens nicht positiv, geschweige denn hoffnungsvoll sind. Danach ist sie oft müde.
Selina kommt mit zwei Anliegen zum Life Coaching:
Erstens möchte sie herausfinden, weshalb sie so erschöpft ist, oder ob sie sogar in einen Burn Out hineinsteuert. Wenn sie von der Arbeit nach Hause kommt, fühlt sie sich seelisch ausgelaugt. Kann es sein, dass die Geschichten der Leute so belastend für sie sind? Oder liegt es daran, dass der Small Talk mit ihren Kollegen sie stresst. Sie kann den ganzen Trubel nicht mehr meistern, fühlt sich völlig überfordert.
Zweitens möchte sie verstehen, warum sie in ihren Beziehungen immer Probleme hat. Wenn sie mit ihrem Freund streitet, achtet sie auf jedes Wort, jeden Gesichtsausdruck, jede kleine Geste. Sie fühlt sich jedes Mal schuldig, so als ob sie diese Konflikte allein herbeiführt. Verhält sie sich seltsam, anders als andere? Sie fühlt sich an ihre Grundschulzeit erinnert, als ihre Lehrerin in ihr Zeugnis schrieb: „ Selina ist sehr schüchtern. Es ist schwer herauszufinden, wer Selina genau ist. Man findet nur schwer Zugang zu ihr.“
Übersicht Blog Sensibilität
Blog Geschichte
1) Analyse im Life Coaching zu Hochsensibilität
2) Was ist Hochsensibilität?
3) 5 hochsensible Personentypen
4) Testfragen zu Hochsensibilität (mit Auswertung)
5) Vorteile von Hochsensibilität
6) Nachteile von Hochsensibilität
7) Das philosophische und gesellschaftliche Dilemma mit der Hochsensibilität
1) Analyse im Life Coaching zu Hochsensibilität
Reizüberflutung an der Arbeit
An der Arbeit wird Selina von den vielen Eindrücken überwältigt, sie kann schwer mit negativem Feedback umgehen, fühlt sich dadurch kritisiert. Nachdem wir über das Thema Hochsensibilität gesprochen haben, wird ihr einiges klar. Sie erkennt sich in fast allen Punkten wieder. Selina nimmt sich vor, mehr Ruhe und Gelassenheit in ihr Leben bringen. Sie setzt sich das Ziel, wieder mit Freude und motivierter zu arbeiten, ihren Selbstwert zu steigern. Zu ihrem Freund möchte sie wieder eine harmonische Beziehung aufbauen.
Lösungswege Hochsensibilität
1) Gespräche steuern
Zusammen erarbeiten wir folgende Lösungswege Damit Selina an der Arbeit mit den Erzählungen und Problemen der Patienten besser umgehen kann, dabei aber souverän und empathisch bleibt, erarbeiten wir einige Methoden aus dem Bereich Small Talk. In Rollenspielen feilt sie zusätzlich an ihrer Rhetorik. Schon nach zwei Wochen treten erste Erfolge ein. Die Patienten erzählen ihr nach wie vor von ihren Problemen. Selina aber meistert das Gespräch in ihrem Sinne, indem sie jetzt Grenzen setzt, wenn es ihr zu viel wird. Mittlerweile entdeckt sie sogar Stärken im Führen von Gesprächen, es macht ihr mittlerweile Spaß und sie kann dabei emphatisch bleiben.
2) Rückzugsorte suchen
Wichtig für Selina sind Rückzugsorte, wo sie kurz entspannen und auftanken kann. Deshalb geht sie ab und zu alleine zum Mittagessen, auch wenn einige Kollegen das anfangs etwas missverstanden und etwas abweisend reagiert haben. Das stört sie nicht mehr. Damit sie noch mehr Zeit für sich hat, beschließt sie, einen Tag pro Woche weniger zu arbeiten. Ein Berufswechsel kommt für sie nicht in Frage. Ihr Beruf macht sie glücklich, ist gleichzeitig auch ihre Berufung.
3) Mehr Ruhe in die Beziehung bringen
Selina hat Probleme, mit Konflikten richtig umzugehen. Sie nimmt die Gefühle anderer sehr intensiv wahr, vor allem bei ihrem Freund fühlt sie sich dann schnell überwältigt. In letzter Zeit kreisten die Konflikte mit ihm meist um Familienbesuche und Treffen mit Freunden. Seit Selina die Kommunikation mit ihrem Freund sucht und ihm erklärt, wie sie sich fühlt und warum sie empfindlicher reagiert als andere, läuft es besser. Sie kommuniziert zum ersten Mal deutlich ihre Bedürfnisse und wirkt dadurch entspannter und authentischer. Ihr Freund hat jetzt verstanden, was Hochsensibilität ist und ist erleichtert, dass beide an der Beziehung arbeiten können.
4) Hochsensibilität annehmen
Selina unternimmt jetzt weniger, sagt auch mal einer Freundin ab. Mit ihren Freund unternimmt sie auch mal gar nichts, außer entspannen, zusammen kochen, einen Film schauen, spazieren gehen. Zu seiner Familie geht Selina nicht mehr zwangsläufig mit, außer sie hat das Bedürfnis danach. Sie ist sehr froh und glücklich, dass es mit ihrem Freund gut klappt, und freut sich über die Anerkennung, die sie jetzt von ihm erfährt. Sie fühlt sich selbstbestimmter.
2) Was ist Hochsensibilität?
Eine sogenannte HSP (Highly Sensitive Person) ist jemand, der überdurchschnittlich sensibel auf Eindrücke und Reize reagiert. Eine hochsensible Person nimmt feinere Nuancen in der Körpersprache und den Stimmungen anderer wahr. Hochsensible sehen, hören, fühlen, schmecken, riechen ohne Filter. Dadurch geraten hochsensible Menschen schneller in eine Reizüberflutung und verspüren schneller das Bedürfnis, sich zurückzuziehen. Es ist wichtig, dass hochsensible Menschen ihre Bedürfnisse erkennen und achten und lernen, sich in einer überreizenden Umwelt zu schützen.
Die Psychologin Elaine Aron ist Schöpferin des Begriffes ‚Hochsensibilität‘. Sie listet die vier Hauptmerkmale von Hochsensibilität unter Verwendung des Akronyms DOES auf:
D = depth of processing = tiefe Verarbeitung von Reizen
O = overstimulation = Reizüberflutung → alles, was tagtäglich auf uns einprasselt
E = emotional reactivity and empathy = Empathie → Reaktion sowohl auf positive als auch auf negative Reize
S = sensing the subtle = sensorische Sensibilität → Aufmerksamkeit und Liebe zum Detail
Hochsensibilität ist keine Störung
Hochsensibilität betrifft etwa 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung. In der Psychologie wird es nicht als Störung oder Krankheit angesehen, sondern als eine angeborene Eigenschaft, die in verschiedenen Ausprägungen vorkommen kann. Es gibt keine allgemein anerkannte Definition von Hochsensibilität. Das kann zur Verwirrung darüber führen, wer als hochsensibel gilt.
Wichtiger ist, dass der Begriff Hochsensibilität vielen Menschen Halt bietet. Er hilft ihnen, sich selbst besser zu verstehen, zu mehr Selbsterkenntnis zu gelangen und ihre Bedürfnisse zu verdeutlichen. Auch machen es die Erkenntnisse aus der Forschung von Elaine Aron leichter, mit anderen, nicht hochsensiblen Menschen, zusammen zu leben und zu arbeiten. Es ist noch unklar, wie die Gesellschaft auf hochsensibele Menschen reagiert.
3) 5 hochsensible Personentypen
Die fünf Arten hochsensibler Personen können wie folgt beschrieben werden:
1. Empathen: Sie haben die Fähigkeit, sich stark in die Emotionen anderer Menschen hineinzuversetzen. Sie nehmen die Emotionen anderer intensiver wahr und können sich schnell von ihnen überwältigt fühlen.
2. Sensorisch Hochsensible: Sie reagieren auf Umweltreize wie Geräusche, Gerüche oder Licht sehr empfindlich. Sie können schnell überwältigt sein, wenn es zu viele Reize auf einmal gibt.
3. Emotional Hochsensible: Sie reagieren stark auf ihre eigenen Emotionen. Sie können schnell von ihren eigenen Gefühlen überwältigt werden, auch wenn diese als angenehm empfunden werden.
4. Kreative Hochsensible: Sie sind oft sehr künstlerisch und einfallsreich. Sie haben eine starke Vorstellungskraft und die Fähigkeit, Schönheit in der Welt zu sehen, die andere möglicherweise nicht wahrnehmen.
5 Intellektuelle Hochsensible: Sie denken oft sehr tief über komplexe Themen nach. Sie haben eine starke Fähigkeit zur Reflexion und zur Verarbeitung von Informationen. Sie können jedoch auch schnell überwältigt werden, wenn sie zu viele Informationen auf einmal verarbeiten müssen.
Meistens treten Mischformen dieser Personentypen auf.
4) Testfragen zu Hochsensibilität
Notieren dir, wie viele Testfragen du mit Ja beantwortest.
– Ich bin leicht von starken Sinneseindrücken überwältigt.
– Ich nehme in meiner Umgebung viele Schwingungen wahr.
– Die Stimmungen anderer Menschen beeinflussen mich.
– Ich reagiere eher empfindlich auf körperlichen Schmerz.
– Nach Anstrengungen habe ich das Bedürfnis, mich an einen Ort zurückzuziehen, wo ich mich von Reizen erholen kann.
– Auf die Wirkung von Koffein reagiere ich sehr empfindlich.
– Auf helles Licht, starke Gerüche, grobe Stoffe oder Lärm reagiere ich sehr empfindlich.
– Ich besitze ein reiches, komplexes Innenleben.
– Bei lauten Geräuschen fühle ich mich unwohl.
– Kunst oder Musik bewegen mich tief.
– Es kommt vor, dass meine Nerven so gereizt sind, dass ich nur noch alleine sein möchte.
– Ich bezeichne mich als sehr gewissenhaft.
– Es kommt häufig vor, dass ich mich erschrecke.
– Wenn ich viel zu tun habe und wenig Zeit dafür habe, bringt mich das aus der Fassung.
– Wenn sich Menschen an einem Ort unwohl fühlen, weiß ich eher als andere, was notwendig ist, um Wohlbefinden herzustellen.
– Wenn man versucht, mir zu viele Dinge auf einmal zuzumuten, bin ich genervt.
– Ich versuche zwanghaft, Fehler zu vermeiden.
– Gewalttätige Filme und Fernsehsendungen meide ich.
– Wenn um mich herum viel los ist, bin ich leicht gestresst.
– Hungergefühle lösen bei mir eine starke Reaktion aus, die meine Konzentration oder Stimmung stört.
– Veränderungen in meinem Leben wühlen mich auf.
– Feine Düfte, Geschmäcker, Klänge, Kunstwerke nehme ich besonders intensiv wahr und genieße sie.
– Wenn viel auf einmal los ist, empfinde ich es als unangenehm.
– Aufregende oder überwältigende Situationen versuche ich zu meiden.
– Wenn ich mit anderen konkurrieren muss oder bei einer Aufgabe beobachtet werde, bin ich so nervös, dass ich schlechter abschneide als sonst.
– Als ich ein Kind war, haben mich meine Eltern oder Lehrer als sensibel oder schüchtern wahrgenommen.
Auswertung des Testes
Hast du mehr als 14 Aussagen it Ja beantwortet, bist du wahrscheinlich hochsensibel. Der Test dient lediglich als Orientierung.
5) Vorteile von Hochsensibilität
1. Stärkeres Einfühlungsvermögen (Empathie): Hochsensible Menschen haben oft ein stärkeres Einfühlungsvermögen und sind in der Lage, feinere Nuancen in der Kommunikation zu erkennen.
2. Kreativität: Hochsensible Menschen haben eine lebhafte Vorstellungskraft und sind in der Lage, ihre Emotionen und Erfahrungen auf kreative Weise auszudrücken.
3. Intuition: Hochsensible Menschen haben oft eine ausgeprägte Intuition und können durch ihre feine Wahrnehmung, subtile Signale wahrnehmen, die anderen verborgen bleiben.
4. Achtsamkeit: Hochsensible Menschen sind oft sehr achtsam und können subtile Veränderungen in ihrer Umgebung oder an anderen Menschen wahrnehmen.
5. Körperliche Wahrnehmung: Hochsensible Menschen haben oft eine sehr feine körperliche Wahrnehmung und können ihre eigenen Bedürfnisse schnell erkennen. Sie spüren oft schnell, wenn etwas nicht stimmt, und achten auf das, was ihnen gut tut.
6) Nachteile von Hochsensibilität:
1. Überstimulierung: Hochsensible Menschen können schnell überstimuliert werden, was zu Erschöpfung oder Überreizung führen kann.
2. Schwierigkeiten mit lauten Geräuschen: Hochsensible Menschen können sehr empfindlich auf laute Geräusche reagieren und haben Schwierigkeiten, sich in lauten Umgebungen zu konzentrieren.
3. Sensibilität gegenüber Medieninhalten: Hochsensible Menschen können empfindlich auf Gewalt, Grausamkeit oder Tragödien in Medieninhalten reagieren und können Schwierigkeiten haben, sich von solchen Erlebnissen zu distanzieren und zu erholen.
4. Verletzlichkeit: Hochsensible Menschen können sich schnell verletzt fühlen, wenn sie kritisiert werden oder mit schwierigen Situationen konfrontiert werden.
5. Höhere Wahrnehmung von Schmerzen: Hochsensible Menschen können Schmerzen und Unbehagen intensiver wahrnehmen als andere, was zu einer erhöhten Schmerzempfindlichkeit führen kann.
7) Das philosophische Dilemma mit der Hochsensibilität
In seinem Essay „Wie es ist, eine Fledermaus zu sein“ argumentiert der Philosoph Thomas Nagel, dass es unmöglich ist, das Bewusstsein oder die Erfahrung einer anderen Art zu verstehen, da wir uns nicht in ihre Lage versetzen können. Dies gilt auch für die etwa 20 Prozent der Hochsensiblen, da ihre Erfahrungen und Empfindungen anders sind als die der Mehrheit. Wir können versuchen, uns in ihre Lage zu versetzen, aber wir können nie vollständig verstehen, wie es ist, in ihrer Haut zu stecken.
Eine weitere Problematik betrifft die Frage, ob die Gesellschaft die Bedeutung und die positiven Aspekte der Hochsensibilität anerkennt oder nicht. Einige argumentieren, dass die Gesellschaft Hochsensible oft als schwach und zu emotional ansieht (Generation „snowflake“) oder sogar als depressiv. Andere glauben, dass die Gesellschaft beginnt, Hochsensibilität als eine wichtige Eigenschaft anzuerkennen. Es ist wünschenswert, dass die Gesellschaft die Einzigartigkeit von Hochsensiblen anerkennt und ihre Empfindlichkeit nicht als Schwäche oder Abnormität betrachtet.
© Timo ten Barge 13.04.23
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